Buchrezension: Buchrezension Dresden bis 1945 – Spurensuche in der Heimatstadt

Soviel vorweg: Das neue Buch von Durs Grünbein ist keine große Literatur, aber es ist lesenswert und auf jeden Fall das Beste, was der Autor seit sehr langer Zeit veröffentlicht hat. Der Untertitel kündigt „Die Geschichte der Dora W.“ an. Es geht um Grünbeins Großmutter, „ein Naturkind aus den schlesischen Dörfern“, der Dorfarmut zugehörig. 1935, mit 16 Jahren, kommt sie nach Dresden, wo Oskar, ein zehn Jahre älterer Schlachtergeselle, sie erwartet. Sie haben sich ineinander verliebt und sind verlobt. Mit 17 wird Dora schwanger, sie heiraten, eine zweite Tochter kommt hinzu: ein perfektes Familienglück, dem die Zeitumstände ein Ende setzen.

Es ist das Leben sogenannter kleiner Leute, über die der Publizist Johannes Gross sinngemäß formulierte: Die Probleme sind groß, das Geld ist knapp. Dora und Oskar meistern ihre Probleme souverän. Der junge Mann arbeitet hart, die junge Frau hält den Haushalt in Schuß und das Geld zusammen. Erstaunlich schnell findet das schlesische Landei sich in der sächsischen Metropole zurecht. Sie ist empfänglich für ihre barocke Schönheit, erkundet auf dem Fahrrad die Umgebung, besucht Cafés, die Museen und traut sich einmal sogar in die berühmte Semperoper. Ihre beste Freundin heißt Gertrud. Deren Vater ist ein deutscher Protestant, die Mutter eine polnische Katholikin, womit sie in der NS-Zeit neben der Spur liegt.

Grünbein hat viel Lokalkolorit recherchiert. Ein über der Stadt schwebender Zeppelin sorgt für Aufsehen – ein gelungener PR-Coup der Partei. Der „Führer“ besucht das Opernhaus, um „Tristan und Isolde“ zu lauschen. Die teure Staatslimousine ist ihm sichtlich peinlich. Er springt heraus, um ein Bad in der Menge zu nehmen, was diese noch mehr in Verzückung versetzt.

Das Buch endet mit der Zerstörung Dresdens

In der Mansarde des Mehrfamilienhauses, in der Dora und Oskar eine Wohnung bezogen haben, wohnt die alte, scheue Frau S., eine Jüdin. Eines Abends demoliert ein Rollkommando ihre Wohnung, ihr Jammer greift den beiden ans Herz, sie helfen ihr beim Aufräumen. Sie sind unpolitisch, mit der herrschenden Ideologie können sie nichts anfangen. Über Dora heißt es: „Ein Sinn für Gerechtigkeit war ihr immer eigen, eine fast biblische Einfalt, wenn sie vom Bösen sprach, von dem sie wußte, daß es sich fürchterlich rächen würde.“ Aber sie kennen auch die Regeln, die sie einhalten müssen, wenn sie nicht in Konflikt mit der Macht geraten wollen.

In der Fülle der geschilderten Begebenheiten fehlt merkwürdigerweise die Uraufführung von Richard Strauss’ Oper „Daphne“ am 15. Oktober 1938 im Semperbau unter der Stabführung Karl Böhms. Zur Premiere reisten Gäste aus ganz Europa an, sie wurde europaweit im Rundfunk übertragen. „Unsere Staatsoper erlebte am Sonnabend einen der seltensten Tage ihrer Geschichte. Superlative reichen nicht aus, das Ereignis zu kennzeichnen“, hieß es zwei Tage später im Dresdner Anzeiger. Wie hätten ausgerechnet Dora und Oskar ahnen sollen, was eine internationale Kulturgenießerelite sich nicht vorstellen konnte und mochte: daß drei Wochen später die gleichfalls von Semper erbaute Dresdner Synagoge in Flammen aufgehen würde?

Die privaten und lokalen Begebenheiten stellt Grünbein in den großen Kontext: Er listet die Einführung der Wehrpflicht, die Nürnberger Gesetze, die Olympischen Spiele 1936 auf, den Anschluß Österreichs, den Einmarsch 1939 in Prag, den Kriegsbeginn. Oskar wird als Gulaschkanonier zuerst nach Frankreich, dann an die Ostfront kommandiert. Lange bleibt die Stadt verschont von den Bombern, weil sie außerhalb ihrer Reichweite liegt. Das Buch endet mit dem Drama vom Februar 1945. Dora liegt mit Scharlach im Krankenhaus, in Stiefeln, Nachthemd und Mantel entkommt sie dem Inferno. Sie trägt einen lebenslangen Herzschaden davon. Mitte der neunziger Jahre, auf ihrem Sterbebett, wird sie berichten, daß eine „Horde“ Rotarmisten sie später vergewaltigt hat.

„Was mich am meisten bedrückt, ist das Verwischen der Spuren dessen, was überhaupt geschah, unter meinen Vorfahren“

Der Buchtitel nimmt Bezug auf den Halleyschen Kometen, der 1910 vorüberzog. Kometen, so heißt es, kündigen Unheil an. Im Buch ist er der unentrinnbare Schicksalsstern. Was konnten Dora und Oskar, die kleinen Leute, gegen das große Schicksal ausrichten? Der Autor läßt ihnen Gerechtigkeit widerfahren: gar nichts. 

„Was mich am meisten bedrückt, ist das Verwischen der Spuren dessen, was überhaupt geschah, unter meinen Vorfahren.“ Grünbein zeichnet die Spuren nach und erobert sich schreibend die verwundete Stadt zurück, so wie Günter Grass das lebenslang mit dem versunkenen Danzig getan hat. Sein neues Buch ist eine Mischung aus Erzählung, Reportage, Essay. Es erinnert an die Werke von W.G. Sebald.

„Der Komet“ ist auch eine kathartische Selbstkorrektur des Autors, der 2015 unter der Überschrift „Das Volk, dieses Monster“ über die Pegida-Demonstrationen gehöhnt hatte als Ansammlung von „neuen Kleinbürgern, Sklaven der Konsumwirtschaft, die um nichts so sehr Angst haben wie um ihr bißchen Besitz (das Auto, den Fernseher, die Couchgarnitur, das Abo im Fußballstadion). Ihre Vulgarität zeigt sich in ihren Forderungen an den Staat, ihren Ansprüchen, die sie mit Zähnen und Klauen verteidigen.“ 2019 warf er den Merkel-Kritikern vor, sie benutzten „eine Sprache übersteigerter Identitäten, eine ‘spalterische Sprache’ (Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier)“, die zur Gewalt führe.

Soziale Scham als Grund für Distanzierung?

Der Dichter war auf die Seite der Macht getreten. Vorausgegangen war der Abstieg des einstigen „Götterlieblings“ der deutschen Gegenwartslyrik zum Liebling des Kulturbetriebs, der ihn mit Preisen überhäufte und lange Aufenthalte in Los Angeles, in Rom und anderen exklusiven Orten ermöglichte. Es ereilte ihn die Hybris und verführte ihn dazu, sich als überlegener Welt- und Bildungsgroßbürger zu präsentieren und den stilisierten Dandys anzugleichen, die in einigen Romanen und Erzählungen von Thomas Bernhard auftauchen. Er zahlte einen enormen Preis dafür: Fritz J. Raddatz nannte ihn 2012 eine „dichtende Luftnummer“, der „das eigene Ich unter Schuttmassen von Angelesenem“ abhanden gekommen war. Der Literaturprofessor, Ernst Osterkamp, lange sein kundiger Exeget, nahm jetzt Anstoß an der „marktgerechten Hurtigkeit“ seiner Textproduktion.

Das neue Buch eröffnet einen Zugang zu den Gründen. Der gleichfalls aus sogenannten kleinen Verhältnissen stammende Soziologe Didier Eribon schreibt in dem autobiographischen Buch „Rückkehr nach Reims“ über die „soziale Scham“, die soziale Aufsteiger über ihr Herkunftsmilieu empfinden, das in den Maßstäben ihres neuen Milieus als primitiv, reaktionär, unkultiviert gilt. Grünbein, der sich von den provinziellen Sachsen scharf distanzierte, erfüllte die Erwartungen einer Kulturschickeria, der er nun angehörte. Über deren Anspruch auf Weltläufigkeit hatte Karl Heinz Bohrer gespottet, sie bewege sich auf dem Niveau umtriebiger Touristen.

Grünbein findet zurück zu seinen Wurzeln

In seinem neuen Buch findet Grünbein zu seinen sozialen Wurzeln und Prägungen zurück und wird wieder authentisch. Heiner Müller, auf den er sich gern beruft, hatte nie seine soziale Herkunft geleugnet. Seine Erfahrungen mit der maroden DDR hatten seinen Blick für die Gebrechen des Westens geschärft. So kommt es, daß in seiner vor fünfzig Jahren geschriebenen „Hamlet-Maschine“ mehr Wahrheit über die Gegenwart steckt als in Grünbeins Produktion der letzten Jahre.

Die Entfremdung einer dichterischen Hochbegabung an den Kulturbetrieb unter Berücksichtigung der fortwirkenden Teilung Deutschlands und ihre Überwindung – das wäre ein Thema für ein reifes Alterswerk Durs Grünbeins.

JF 13/24

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